Aus dem Dunkel der Tasche ans Licht gehoben: Datscha Radios wundersame Dokumentation seiner Berliner Aktivitäten der Jahre 2019 und 2020 ist da! Und wir freuen uns!
“Nachtgärtnern I-III / Radiophonien des Alls” prunkt mit zahlreichen Fotos, einem direkt aus Radiozitaten entnommenen ‘Vignetten-Parcours’, einem Essay von Kate Donovan, Vorwort und Nachwort und selbstverständlich der Liste aller teilnehmenden KünstlerInnen – im Garten und Open Call. Ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis offenbart zugleich die geschickte Hand (und Auge) unserer Grafikerin Tiger Stangl. Enjoy!
Euch vor allem möchten wir danken – und haben für alle, die vor Ort mitgewirkt haben, ein physisches Exemplar reserviert. Daher zugleich der Aufruf an alle Berliner Mitwirkenden: Bitte schreibt uns, wann und wie ihr Euren Katalog abholen möchtet.
Wir sammeln Eure Anfragen und hoffen natürlich, dass es im späten Frühling die Möglichkeit gibt, bei einem distanzvollem Gartenfest die Dokumentation persönlich zu überreichen. Bis dahin bemühen wir uns, die Exemplare jeweils im engeren Kreise zu verteilen (sofern dies nach den geltenden Corona-Auflagen möglich ist).
Was ist ein Ritual, und was ist eine Zeremonie? Hat der Garten seine eigenen geheimen Rituale, die unbemerkt bleiben und über menschliche Sinneswahrnehmung hinausgehen? Und was ist mit den Energien, die ständig für die Arbeit und das Spielen verbraucht werden: Werden wir ihnen jemals unseren Dank aussprechen?
Datscha Radios dritte Episode von Nachtgärtnern begann mit einem Wiegenlied der Künstlerin Ela Spalding. Anstatt zu singen oder Worte zu benutzen, sind Ela’s Schlaflieder verhalten gesummte, minimalistische Melodien, bei denen die Pausen ebenso wichtig sind wie ihre fragmentarische Melodie. Ela Spalding ist Mitglied der transdisziplinären Gruppe Archipel e.V.. Da sie zu Beginn der Sendung nicht anwesend sein konnte, hatte sie uns eine Auswahl ihrer „Sundown Songs“ vorab geschickt. Fortan würde unser Programm von ihren seltsam beruhigenden Sequenzen getragen werden, die in ihrer Nichtsprachlichkeit die Übergänge von Wachsein, Schlaf und Traum ebenso begleiteten wie die einzelnen Verwandlungen unseres Programms auf seiner Reise von Sonnenuntergang bis in die Tiefen dieser Herbstnacht. In Bezug auf das Wetter hatten wir übrigens großes Glück: Der Abend spendierte uns Sonnenstrahlen, und die Temperaturen blieben mild. Seit dem Nachmittag hatte auch der Künstler und Koch Mathias Deutsch in der Datscha-Küche gewerkt, und so war auch für reichliches und gutes Essen gesorgt.
Auf unsere Eröffnungsrede folgte ein Hauch von Magie: Niki Matita, die immer noch an einer starken Erkältung litt, musste zu Hause bleiben. Das Verbrennen eines Zweigs Salbei, begleitet von einem finnischen Hustenzauber sollte da helfen, so hoffte es das Radioteam Kate Donovan, Helen Thein und Gabi Schaffner.
Sei es nun trotz oder aufgrund der Allgegenwart magischen Denkens in unserem täglichen Leben, das Kreieren neuer sinnvoller Rituale oder ihre Betrachtung aus einer nicht-menschlichen Perspektive wird zunehmend schwieriger. Kate Donovans Dankesritual für die Energien, die unserer zivilisatorisches Dasein der Umwelt abverlangt, machte daher ebenso Sinn wie Helen Theins Fragen nach möglichen „rituellen“ Verhaltensweisen unter den Pflanzen des Gartens
Inzwischen hatte auch die Blechtonne Gefallen an den toten Zweigen des Kirschbaums gefunden und spuckte Feuer und Funken unter dem sich verdunkelnden Himmel. Datscha Radios Open Call hatte eine reichliche Ernte an Kompositionen internationaler Künstler eingebracht. Wir begannen mit einem Auszug aus Julia Drouhins (später vollständig gespielter) Klangperformance „Entretiens avec mes interieurs“ und Koho Jaripekkas „Piano / FM Radio / Loop“.
Unser Überraschungsgast war der Künstler und Kurator Brane Zorman, der unverhofft im Garten erschien. Brane berichtete über seine aktuellen Recherchen und Kompositionen für das slowenische Kunst- und Kulturhaus in Berlin und seine Arbeit bei Radio Cona in Ljubljana. Währenddessen erwartete die „Blaue Blume des Todes“ auf dem Tisch zwischen uns auf ihre Stunde. Schließlich kam der Moment, in dem unser Gast die Pflanze mit einem Gummihandschuh anfassen durfte.
Aconitum napellus (hier als spätblühende Sorte Carmichaelii) ist wahrscheinlich die giftigste Pflanze in Mitteleuropa. Dem Mythos zufolge erwuchs sie aus dem Geifer des Höllenhundes Zerberus, und schon in vorrömischer Zeit wurde das aus seiner Wurzel gewonnene „Aconit“ -Pulver als zuverlässiges Gift für Jagd und Mord verwendet. Zudem ist das Kraut hilfreich bei der Rückverwandlung von Werwölfen, daher sein englischer Name „Wolves Bane“. Dennoch verschönerte seine prächtige Blüte das Wintergartenstudio.
An diesem Abend (und anschließender Nacht) war unsere Zuhörerschaft in der Tat eine „Mixed Crowd“. Unser Termin von Nachtgärtnern III fiel mit dem „Welttag des feministischen Radios“ zusammen. Ab 23 Uhr wurden unser Programm daher europaweit von einigen freien Radios übernommen, und Sound Art Radio in Devon, Großbritannien, verfolgte unser Programm schon ab 19 Uhr in Auszügen (Liste der Radiosender am Ende dieses Textes.) Da die meisten unserer Gespräche auf Englisch stattfanden, war es vor allem Helen Thein, die sich um ihre deutschen Übersetzung bemühte.
Niki Matita hatte einen Soundwalk vorproduziert, bei dem sie mit der Katze Fiep durch den Gartenabschnitt eines Schiffes spazierte. Wir spielten „Nachts im Garten der MS Sputnik“, gefolgt von Joan Schumans großartigem Stück „Ligature“, in dem sich zwei siamesische Zwillinge gegenseitig in den Schlaf flüsterten. Es folgte Mariah Blues „Hypnagogia“, über auditive Halluzinationen, die beim Einschlafen auftreten.
Gegen 21 Uhr kam die finnische Künstlerin und Performerin Niina Lehtonen-Braun gleichzeitig mit Ela Spalding und Niko de Paula Lefort im Garten an, wobei letzterer einen riesigen Koffer bei sich trug.
„Iltakahvit with Niina Nokkonen“ erwies sich als ein entzückender spontaner Vortrag, bei dem finnische Wiegenlieder, Ratschläge und Sprüche von Mutter und Großmutter, Zu-Bett-Geh-Rituale und natürlich die Kunst des Kaffeebrühens mit und ohne hausgemachten Brandy zum Einsatz kamen. Alle, die da zuhörten, werden von jetzt an niemals ohne Taschentuch ins Bett gehen … und wir werden immer saubere Unterwäsche und das schönste Nachthemd tragen!
Unser Programm wurde mit Martyna Posnanskas „Requiem for a Fly“ fortgesetzt, gefolgt von der Einführung eines neuen Zeremonial-Formats. In „Breaking Nuts“ wurden die Haselnüsse des Gartens geknackt, um herauszufinden, ob sie Geschichten enthielten. Die meisten von ihnen taten es!
Kate Donovan verwendete ein Walkie-Talkie für ihre Performance vor der Datscha und las einen Text von Rikki Ducornet zum Thema Nachtspaziergänge und Imaginationen. „Während der volle Mond die Sandwege beleuchtete, unterhielt ich diese Träumerei: Ich stellte mir einen Planeten vor, wo Sprachen so spontan wüchsen wie Kristalle; ich tat, als wären diese Fossilien – in ihrer runden Vollkommenheit – die Samen neuer Monde.“
Niko de Paula Leforts Koffer erwies sich als modularer Eurorack-Synthesizer. Seine Performance „Aurality“ beschrieb er als Live-Probe für Kompositionen einer neuen Serie, die im November in „Acud Macht Neu“ in Berlin zur Aufführung kommen würden.
Von da ging es direkt von einem Archipel-Mitglied zum anderen: Ela Spalding stellte ihre Arbeit „Ocaso / Sundown“ nun live vor. Ela führte mit uns eine spezielle „Schlafenszeit-Routine“ durch, las eine Geschichte (über das Denken an Berlin in einem tiefen Zeitkontext) und sang ein weiteres Wiegenlied.
Gegen 23:30 Uhr wickelte der Künstler und Musiker Ansgar Wilken seine Percussion-Instrumente aus einem Handtuch und breitete sie auf dem Boden aus. Darunter befanden sich eine Handschaufel, ein Metallaschenbecher, eine Vorhängekette, winzige Gongs, Murmeln in einer Schüssel und weitere diverse Gegenstände aus Draht, Gummi oder anderen Dingen. Ansgars Konzert führte uns zu „The Secret Rhythm of Tulpen und Narzissen“. Mit unglaublicher Geschwindigkeit wurden die Objekte betrommelt, beklopft und gestreichelt, gezupft und geziept, arrangiert und re-arrangiert in Mustern, die man hören und sehen konnte. Unser anschließendes Gespräch erörterte morgendliche Rituale – von den unveränderlichen Bewegungsmustern des Sich-Abtrocknens nach der Dusche bis zur Katastrophe fehlender Milch im Morgenkaffee.
Inzwischen waren noch mehr Gäste angekommen und genossen draußen am Tisch Essen und Trinken. Podcasterin Laura Lukitsch war gekommen, um Material für ihre nächste Radiosendung aufzunehmen. Neben der Feuertonne stand der Radiokünstler Marold Langer-Philippsen und richtete seinen Rekorder auf die zischenden Flammen, in Vorbereitung auf seinen Auftritt in den frühen Morgenstunden.
Mitternacht: „The Beetles’ Harvest Supper“ sah die Künstlerin und Wissenschaftlerin Kat Austen mit einer Schüssel Mehl, etwas Milch, einem Ei und mit Backpulver gefüllten Löffeln aktiv werden. Bezug nehmend auf ländliche Ernterituale und deren Ziel, eine gute Ernte für das nächste Jahr zu sichern, führte Kat den „Ritus künftiger Käfer“ durch, um im nächsten Jahr ein reichhaltiges Ökosystem für Insekten zu gewährleisten. Dies beinhaltete das Backen von Geister-Käfern aus Maismehl, eine Beschwörung verbleibender Käfer der Saison mit einem lauten BANG !, und das gemeinschaftliche Teilen der Mais-Käfergeister um Mitternacht.
Niki Matita hatte zwei weitere Vorproduktionen vorbereitet: „Knöpfrunde“, ein kurzes Hörspiel von Hermann Bohlen, und „Mitternächtliche Klangreise“, eine Aufführung des Berliner Musikerin, Schamanin und Heilerin Zelda Panda. Weitere Kompositionen aus dem Open Call fanden ihren Weg on Air, darunter zwei Werke von Chelidon Frame, eines von Alex Head (Kurator des Berliner Radioprojekts „Networked Independence“) und Ana Berkenhoffs „Beastjetzt“. Umrahmt von „After the moonrise“ und „Low rise“, stellte Mme Schaffner „Singing Fires“ vor, eine Zusammenstellung archivierter Fieldrecordings aus dem Jahr 2004, die die Musikanthropologin Sisukas Poronainen anlässlich eines zeremoniellen Festes in Pauanne, Kokkola, im Westen von Finnland aufgenommen hatte.
Die Gesänge wurden meistenteils in Gegenwart eines Feuer gesungen und enthielten Texte aus der Kalevala, einem kosmogonischen Mythos, der 1835 von Elias Lönnerot zusammen gestellt wurde. Obwohl im 21. Jahrhundert aufgezeichnet, mutete die Atmosphäre dieser Lieder und „Runos“ (Zaubersprüche) fast vorzeitlich an.
Eine neue Runde „Breaking Nuts“ mit Helen Thein, Gabi Schaffner und Kate Donovan erbrachte weitere wundersame Geschichten, darunter auch die etwas traurige über ein Geschwisterpaar, das in einer Walnuss wohnte und von uns entzweigebrochen und verzehrt wurde. Weiteres Wiegensummen von Ela stieg in den Äther auf, ebenso Leon Twardys „Excerpt of Nana“ sowie eine noch lang knisternde Aufnahme des Datscha-Feuers.
„Maschkera“ von Marold Langer-Philippsen begann um 3:30 Uhr in einem meditativen Tempo mit Geräuschen, die vom Feuer draußen aufgenommen waren, gesprochenen Worten und interstellaren Telefaxen aus seinem Projekt „Moon Bouncing“ von 2019. So erwuchs Tonschleife nach Tonschleife aus diesen und weiteren Klängen, die live erzeugt wurden (Glocken, Händeklatschen, Telefonwiedergabe). “Maschkera” nahm Fahrt auf, und der Künstler atmete in eine blaue Maske, die er klanglich so modifiziert hatte, um je nach linkem oder rechtem Mundstück verschiedene Klangfarben zu erzeugen,
Mit Einbruch des Morgens, gegen 6:30 Uhr, kam unser letzter Gast, die Künstlerin und Informatikerin Peggy Sylopp, zu einem besinnlichen Morgenspaziergang, der für 7 Uhr angesetzt war. In ihrer Hand hielt sie ein selbstgefertigtes Gerät, das es uns erlauben sollte „To Hear how you Like To Hear“. Aus ungeklärten technischen Gründen mussten wir unseren Spaziergang durch den Garten jedoch ohne dieses sinneserweiternde Hörgerät machen, das Peggy in Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer-Institut „für Menschen mit und ohne Hörbehinderung“ entwickelt hatte.
Zurückgeworfen auf unsere schläfrig schlaftrunkenen Sinne erkundeten wir die Beete, schnupperten an letzten Rosen des Jahres, sammelten gefallene Äpfel auf und sinnierten über den rosig glühenden Kondensstreifen eines Flugzeugs, der sich langsam in einem nächsten strahlenden Herbsttag auflöste. Wir danken fürs Zuhören!
8:00 Uhr: Es ist Zeit fürs Frühstück, ein letztes Foto…und erste Planungen für ein Datscha Radio in 2020.
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Rezept für gebackene Käfergeister (Ritual künftiger Käfer)
Around 500g of baking flour
One large egg
A teaspoon of baking powder
Milk
Mix together the flour and baking powder thoroughly. Make a hollow and break in the egg. Add a splash of milk and begin to mix. Gradually add more milk until the mixture is stiff and before it becomes sticky. If you add too much milk, add a little flour to compensate. Spread flour on a baking tray. Take a ping pong ball sized portion of the mixture and form it into a beetle shape, then place it on the baking tray. You can use spaghetti or cloves for the antennae. Repeat until all the mixture is used. Bake in the oven at 150 degrees for 10 minutes. To summon the beetles you can try throwing copper chloride in the bonfire, but they only come on special harvest days….
NightGardening III was rebroadcast (in parts) by: World Day of Feminist Radio (Freirad Innsbruck, Freies Radio Neumünster, Free FM Ulm, SoundArt Radio, Freies Radio Berlin Brandenburg (colaboradio, frrapo Potsdam and Ohrfunk).
Bäume, Mond und Feuer. Was bleibt da noch zu wünschen übrig, wenn man mit einer 14-stündigen Sendung über Nachtwanderungen, Rituale und Zeremonien befasst ist?
Die Dateien zum Nachhören natürlich – für den Fall, dass man sie verpasst hat oder einfach zu früh schlafen gehen musste. Die ersten sechs Teile von Datscha Radio sind ab jetzt auf MixCloud, die Restlichen folgen bis Allerheiligen.
Wir senden direkt aus dem Datscha-Garten von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang: 21. Oktober 17:57 Uhr bis 7:45 am 22. Oktober 2019. online auf datscharadio.de direkt auf aporee.org: http://radio.aporee.org:8000/datscha auf Eurem eigenen Player: http://radio.aporee.org:8000/datscha.m3u Übernahmen sind im Gespräch und werden hier zeitnah bekannt gegeben.
Unebener Boden, eingeschränkte Sicht, im wahrsten Sinn des Wortes unvorhergesehene Hindernisse: Das Spazierengehen bei Dunkelheit verlangt unseren Sinnen und unserem Körper andere Fähigkeiten und Sensibilität ab als das Flanieren bei Tage. Dies zu erforschen ist Teil von Datscha Radios vorläufig letzter Radionacht in 2019 Ein weiterer Schwerpunkt wird auf die Nacht als Ort nocturner Zeremonien gelegt. Eine Vielzahl von Ritualen und Zeremonien werden weltumspannend in den Zeitraum der Nacht gelegt… doch weshalb? Unzweifelhaft liegt es an der Nachbarschaft von Schlaf und Traum, die die Menschen seit jeher mit Ehrfurcht und Respekt erfüllt hat. Auch in der modernen Alltagswelt sind die Übergänge von Wachen zu Schlafen und umgekehrt geprägt von kleinen, aber für das Individuum wichtigen Ritualen.
Das Team fragt sich derweil, ob die Decken reichen werden. So unvorhersehbar wie die Temperaturen in dieser Nacht vom 21. auf den 22. Oktober ist auch unser Programm zum jetzigen Zeitpunkt. Einige der KünstlerInnen sind jedoch bereits bekannt, darunter:
Ela Spalding, Peggy Sylopp (Hear how you like to hear):Soundwalk Datscha, Niina Lehtonen, Marold Langer-Phillipsen, Zelda Panda/ Roberta Panda Perzolla und Christina Kyriazidi (Story in Berlin/ Food for Story) Die (Trauer)rituale der Elefanten – ein Gespräch mit Niki Matita.
Wir freuen uns sehr, dass sowohl Soundart Radio wie auch Resonance Extra Nachtgärtnern II von Sonnenuntergang am 8. August bis zum Sonnenaufgang am 9. August übernehmen wird.
Der Himmel war noch hell, als wir mit dem “Nachtgärtnern” begannen. Während wir aufbauten, schien die Sonne auf das Geländer der Veranda, wo ein kleiner Herd aufgestellt war, daneben Flaschen mit Wein und Marien- und Maikäfer aus Schokolade. Leonie Roessler war den langen Weg von Den Haag gekommen und hatte ihren Sampler und Rechner mitgebracht. Wir unterhielten uns…. und dann, exakt um 20:32 Uhr zu Sonnenuntergang und mit der Abenddämmerung, die sich aus den dunkleren Ecken des Gartens hinaus auf den Rasen wagte, kam der Moment, um on Air zu gehen.
Unser Eröffnungsstück war ein dreistimmiges Madrigal aus dem 16. Jahrhundert des Komponisten Thomas Weelkes, gesungen vom Berliner Chor “Singlust” und mit dem passenden Titel “The Nightingale”. Geschrieben für Sopran, Alt und Bariton, entschwebten die Melodiestränge in die Abendluft zusammen mit dem Duft des blühenden Flieders über den Gartenzaun und darüber hinaus in die benachbarten Kleingärten der “Kolonie Britzer Wiesen”. Denn diesmal finden die Iterationen von Datscha Radios “Nachtgärtnerns” jeweils in einem anderen Berliner Garten statt… und Kate Donovans “Datscha” war für seine Nachtigallenpopulation bekannt.
Von da ab entspannen sich neun Stunden nächtlicher Radiokunst. Während und zwischen den Auftritten tranken wir Champagner (zur Feier des kürzlich gewonnenen Preises für das Projekt) und heißen Tee und besprachen, was wir über diesen berühmten Vogel wussten, beginnend mit einer Einführung von Kate über die erste Nachtigallen-und-Musikaufnahme, die damals in London gemacht wurde und bei der Beatrice Harrison das Cello spielte.
Leonies Beitrag war eine Klanglandschaft, die sie exklusiv für diesen Abend komponiert hatte. “Copper and Song” basierte auf ihrem Besuch in Isfahan im Iran, wo sie den Basar der Kupferschmiede besuchte und dabei feststellte, dass fast jeder von ihnen einen Käfig mit einer Nachtigall besaß, die das Hämmern mit ihrem Gesang begleitete. In unserem späteren Gespräch bezweifelten wir allerdings, dass es für die Vögel ein Vergnügen wäre, mit so viel Lärm zu leben, und wir dachten über den zufälligen Inhalt von Feldaufnahmen nach, die oft einem ursprünglich ganz anderen Zweck hätten dienen sollten.
Währenddessen besuchten uns neugierige Gartennachbarn, Kasia Justka und Peggy Sylopp tauchten als Überraschungsgäste auf, Rosanna Lovell betrat den Garten mit ihrem Laptop und einer Klarinette, und Walter Schulze erschien mit zwei sehr beeindruckenden Koffern, die kurz darauf ihren bedeutsam blinkenden Inhalt enthüllten.
JD Zazie und Mat Pogo materialisierten sich aus der Dunkelheit und begannen, ihre Ausrüstung aufzustellen. Der ursprüngliche Zeitplan hatte Niki Matita und Walter Schulze zu dieser Stunde vorgesehen, doch Schulzes Synth und Niki Matitas Performance-Lesung erforderten nun mal Vorbereitungszeit. “Domestic Nightingale” von JD Zazie und Mat Pogo basierte auf Samples von Nachtigallen, die modifiziert, remixed, beschleunigt und verzögert wurden. Muster erschienen und verschwanden wie Wirbel in einem schnell fließenden Bach: Ein sehr schönes Konzert!
Secret-en-plein-aire von Walter Schulze und Niki Matita erwies sich als zweiteilige Performance. Schulzes Synthesizer blinkten in allen Farben des Spektrums, während sie eine Reihe von Berliner Nachtigall-Feldaufnahmen in ihrem Inneren bearbeiteten. Soweit ich es (auf Nachfrage bei Niki) verstanden habe, benutzte Schulze das Signal der Hüllkurven, um die Töne zu modulieren…. und die Maschine zwitscherte und sang, live kommentiert von Niki, die gelegentlich mit an den Knöpfen drehte. Für ihren Text “Die Nachtigall vs. der Nachtigall” hatte sie ein eigenes Klangnest vorbereitet, darunter eine Sopran-Nachtigallinterpretation aus den 30er Jahren.
Lukatoyboy kam auf spontane Einladung von Frau Matita, nachdem sie sich ein paar Tage zuvor auf der Straße getroffen hatten, und brachte einen tragbaren Plattenspieler und zwei Walkie-Talkies mit. Als echter Überraschungsgast war er null überrascht vom Thema der Nacht und extrahierte mindestens ein Dutzend 7-Zoll Vogelstimmenvinyls aus seinen Taschen. Seine Performance war ausgesprochen vielseitig: Die Platten wurden zerkratzt und gespielt, während ein kleines Diktiergerät als Loop-Maschine diente. Es entstanden solche abenteuerlichen Sequenzen – Vogelgesang und eingestreute Stimmen von Naturforschern und Vogelbeobachtern. Danach übernahm Niki Matita die Rolle einer Expeditionsleiterin auf dem Walkie-Talkie und führte Luka (anderes Walkie-Talkie) und JD Zazie (Mikrofon an langem Kabel) hinaus in den Garten und darüber hinaus, um den Geräuschen der nächtlichen Gartenkolonie nachzugehen.
Während die Temperaturen allmählich auf 12 Grad absanken (gefühlte 8 Grad), zogen wir und die Künstler*innen Schicht für Schicht warme Kleidung über: Strumpfhosen, Pullover, Westen, Hüte und Kapuzenpullover (mit roten Ohren). Radio-Adrenalin hielt uns in Schwung. Rosanna Lovell war die letzte Live-Künstlerin, und sie brachte eine exquisit recherchierte Auswahl von Oliver Messians Kompositionen mit, die er aus Vogelstimmen abgeleitet hatte. “Vogelgesang und Notation” wurde gefolgt von Rosannas Klarinetteninterpretation einer Nachtigallen-Partitur, die ich 2014 für Datscha Radio konzipiert hatte (Das Instrument musste erst aufwärmt werden, indem sie es unter ihrer Jacke versteckte wurde, bevor es gespielt werden konnte.). Nachdem wir bereits so vielen verschiedenen, feldaufnahmenbasierten und teils elektronisch verarbeiteten nachtigallischen Gesangsstücken gelauscht hatten, fanden wir es immer noch erstaunlich, wie sehr die “Essenz” der melodischen Triller, Pausen und Pfiffe dieses Vogels in den verschiedenen Interpretationen erhalten blieb.
Mitternacht vorbei wandten wir uns Gesprächsthemen und Kompositionen zu, die Kate und ich im Vorderfeld gesammelt hatten: Das Interview mit dem Künstler David Rothenberg wurde von zweien seiner Werke eingerahmt, die er für seine Arbeit “Nightingales in Berlin” in verschiedenen Parks eingespielt hatte, gefolgt von einer Komposition von Felicity Mangan, die ihn auch während einer seiner nächsten Präsentationen begleiten würde (16. Mai in der Zabriskie Buchhandlung in Berlin). Udo Noll hatte eine “eklektische Mischung” von Nachtigall-Feldaufnahmen aus seinem aporee.org-Archiv beigesteuert, die Teil einer umfangreichen Hörsitzung zu weiteren Feldaufnahmen waren – eine davon von einem in Charlottenburg an Schlafmangel verzweifelnden Künstler aufgenommen.
Die frühen Morgenstunden waren da. Ein leichter Regen fiel und draußen in einem Blumentopf ruhte ein Mikrofon unter einem Regenschirm, um die Umgebungsgeräusche der Britzer Wiesen aufzunehmen. Entfernte Vogelstimmen mischten sich mit dem Geräusch von noch weiter entferntem Verkehr und mysteriös murmelnden Geräuschen und begleitet von dem prasselnden Echo der Regentropfen auf der gespannten Haut des Schirms. Der Garten war ruhig, die Künstler fort, unsere Pressedame Helen hatte sich auf ein Bett im Inneren zurückgezogen. Zeit zum Geschichten erzählen und Gedichte lesen…. und für eine weitere Einspielung des Nachtigallenchors und Überlegungen zur Vogelmusik. Wer noch wach war, konnte danach Keats’ “Ode an eine Nachtigall” (zweisprachig), der grausigen Geschichte von Ovid’s Philomela oder dem Märchen “Die Rose und die Nachtigall” von Oscar Wilde lauschen, um nur einige zu nennen.
Gegen 4:30 Uhr begann der Garten wieder aufzuwachen: Das Lied der Nachtigallen vermischte sich mit den Guten-Morgen-Rufen eines Krähenschwarms und dem Gurren der Holztauben und das Grau der Wolken wurde heller. Um 5 Uhr bemerkten wir, dass unsere Stimmen und Gedanken ziemlich langsam geworden waren. Gute Idee, hier auf einen von Niki Matitas Luciana-Mixen zurückzugreifen, von denen sie mehrere vorbereitet hatte. Jazzige Melodien, Vogeltangos und klassische Interpretationen zur Nachtigall waren viertelstundenweise portioniert worden, um das Thema in populärer (und weniger populärer) Musik zu präsentieren.
5:27: Wir hatten es fast geschafft! Knapp blieb die Zeit für eine kurze Vorschau auf Datscha Radios zweites Event von “Night Gardening” über die “Düfte der Nacht” und für den letzten Mitschnitt von Thomas Weelkes erstaunlichem Nachtigallen-Madrigal, gesungen vom “Singlust”-Chor unter der Leitung von Andrea Eckhardt. Ein Knistern und Knacks: Die “Nacht der Nachtigallen” war vorüber!
Genau in diesem Moment landete eine Nachtigall auf dem Busch neben der Veranda und begann mit aller Macht zu trällern…. und wir lauschten weiter…