Datscha Radio Logo

Nachlese: Nachtgärtnern III

Was ist ein Ritual, und was ist eine Zeremonie? Hat der Garten seine eigenen geheimen Rituale, die unbemerkt bleiben und über menschliche Sinneswahrnehmung hinausgehen? Und was ist mit den Energien, die ständig für die Arbeit und das Spielen verbraucht werden: Werden wir ihnen jemals unseren Dank aussprechen?

14 hours of radio on cue

Datscha Radios dritte Episode von Nachtgärtnern begann mit einem Wiegenlied der Künstlerin Ela Spalding. Anstatt zu singen oder Worte zu benutzen, sind Ela’s Schlaflieder verhalten gesummte, minimalistische Melodien, bei denen die Pausen ebenso wichtig sind wie ihre fragmentarische Melodie. Ela Spalding ist Mitglied der transdisziplinären Gruppe Archipel e.V.. Da sie zu Beginn der Sendung nicht anwesend sein konnte, hatte sie uns eine Auswahl ihrer „Sundown Songs“ vorab geschickt. Fortan würde unser Programm von ihren seltsam beruhigenden Sequenzen getragen werden, die in ihrer Nichtsprachlichkeit die Übergänge von Wachsein, Schlaf und Traum ebenso begleiteten wie die einzelnen Verwandlungen unseres Programms auf seiner Reise von Sonnenuntergang bis in die Tiefen dieser Herbstnacht.
In Bezug auf das Wetter hatten wir übrigens großes Glück: Der Abend spendierte uns Sonnenstrahlen, und die Temperaturen blieben mild. Seit dem Nachmittag hatte auch der Künstler und Koch Mathias Deutsch in der Datscha-Küche gewerkt, und so war auch für reichliches und gutes Essen gesorgt.

Mr Deutsch being asked about the menu.

Auf unsere Eröffnungsrede folgte ein Hauch von Magie: Niki Matita, die immer noch an einer starken Erkältung litt, musste zu Hause bleiben. Das Verbrennen eines Zweigs Salbei, begleitet von einem finnischen Hustenzauber sollte da helfen, so hoffte es das Radioteam Kate Donovan, Helen Thein und Gabi Schaffner.

Sei es nun trotz oder aufgrund der Allgegenwart magischen Denkens in unserem täglichen Leben, das Kreieren neuer sinnvoller Rituale oder ihre Betrachtung aus einer nicht-menschlichen Perspektive wird zunehmend schwieriger. Kate Donovans Dankesritual für die Energien, die unserer zivilisatorisches Dasein der Umwelt abverlangt, machte daher ebenso Sinn wie Helen Theins Fragen nach möglichen „rituellen“ Verhaltensweisen unter den Pflanzen des Gartens

Ritual of Gratitude

Inzwischen hatte auch die Blechtonne Gefallen an den toten Zweigen des Kirschbaums gefunden und spuckte Feuer und Funken unter dem sich verdunkelnden Himmel.
Datscha Radios Open Call hatte eine reichliche Ernte an Kompositionen internationaler Künstler eingebracht. Wir begannen mit einem Auszug aus Julia Drouhins (später vollständig gespielter) Klangperformance „Entretiens avec mes interieurs“ und Koho Jaripekkas „Piano / FM Radio / Loop“.

Brane Zorman, Radio Cona

Unser Überraschungsgast war der Künstler und Kurator Brane Zorman, der unverhofft im Garten erschien. Brane berichtete über seine aktuellen Recherchen und Kompositionen für das slowenische Kunst- und Kulturhaus in Berlin und seine Arbeit bei Radio Cona in Ljubljana. Währenddessen erwartete die „Blaue Blume des Todes“ auf dem Tisch zwischen uns auf ihre Stunde. Schließlich kam der Moment, in dem unser Gast die Pflanze mit einem Gummihandschuh anfassen durfte.

This flower holds dark and deadly secrets

Aconitum napellus (hier als spätblühende Sorte Carmichaelii) ist wahrscheinlich die giftigste Pflanze in Mitteleuropa. Dem Mythos zufolge erwuchs sie aus dem Geifer des Höllenhundes Zerberus, und schon in vorrömischer Zeit wurde das aus seiner Wurzel gewonnene „Aconit“ -Pulver als zuverlässiges Gift für Jagd und Mord verwendet. Zudem ist das Kraut hilfreich bei der Rückverwandlung von Werwölfen, daher sein englischer Name „Wolves Bane“. Dennoch verschönerte seine prächtige Blüte das Wintergartenstudio.

An diesem Abend (und anschließender Nacht) war unsere Zuhörerschaft in der Tat eine „Mixed Crowd“. Unser Termin von Nachtgärtnern III fiel mit dem „Welttag des feministischen Radios“ zusammen. Ab 23 Uhr wurden unser Programm daher europaweit von einigen freien Radios übernommen, und Sound Art Radio in Devon, Großbritannien, verfolgte unser Programm schon ab 19 Uhr in Auszügen (Liste der Radiosender am Ende dieses Textes.) Da die meisten unserer Gespräche auf Englisch stattfanden, war es vor allem Helen Thein, die sich um ihre deutschen Übersetzung bemühte.

Listening pumpkin

Niki Matita hatte einen Soundwalk vorproduziert, bei dem sie mit der Katze Fiep durch den Gartenabschnitt eines Schiffes spazierte. Wir spielten „Nachts im Garten der MS Sputnik“, gefolgt von Joan Schumans großartigem Stück „Ligature“, in dem sich zwei siamesische Zwillinge gegenseitig in den Schlaf flüsterten. Es folgte Mariah Blues „Hypnagogia“, über auditive Halluzinationen, die beim Einschlafen auftreten.

Iltakahvit with Niina

Gegen 21 Uhr kam die finnische Künstlerin und Performerin Niina Lehtonen-Braun gleichzeitig mit Ela Spalding und Niko de Paula Lefort im Garten an, wobei letzterer einen riesigen Koffer bei sich trug.

Iltakahvit with Niina Nokkonen“ erwies sich als ein entzückender spontaner Vortrag, bei dem finnische Wiegenlieder, Ratschläge und Sprüche von Mutter und Großmutter, Zu-Bett-Geh-Rituale und natürlich die Kunst des Kaffeebrühens mit und ohne hausgemachten Brandy zum Einsatz kamen. Alle, die da zuhörten, werden von jetzt an niemals ohne Taschentuch ins Bett gehen … und wir werden immer saubere Unterwäsche und das schönste Nachthemd tragen!

Measuring the coffee for Niina’s bedtime stories

Unser Programm wurde mit Martyna Posnanskas „Requiem for a Fly“ fortgesetzt, gefolgt von der Einführung eines neuen Zeremonial-Formats. In „Breaking Nuts“ wurden die Haselnüsse des Gartens geknackt, um herauszufinden, ob sie Geschichten enthielten. Die meisten von ihnen taten es!

Kate Donovan verwendete ein Walkie-Talkie für ihre Performance vor der Datscha und las einen Text von Rikki Ducornet zum Thema Nachtspaziergänge und Imaginationen. „Während der volle Mond die Sandwege beleuchtete, unterhielt ich diese Träumerei: Ich stellte mir einen Planeten vor, wo Sprachen so spontan wüchsen wie Kristalle; ich tat, als wären diese Fossilien – in ihrer runden Vollkommenheit – die Samen neuer Monde.“

Ms Donovan reads Ducornet

Niko de Paula Leforts Koffer erwies sich als modularer Eurorack-Synthesizer. Seine Performance „Aurality“ beschrieb er als Live-Probe für Kompositionen einer neuen Serie, die im November in „Acud Macht Neu“ in Berlin zur Aufführung kommen würden.

Von da ging es direkt von einem Archipel-Mitglied zum anderen: Ela Spalding stellte ihre Arbeit „Ocaso / Sundown“ nun live vor. Ela führte mit uns eine spezielle „Schlafenszeit-Routine“ durch, las eine Geschichte (über das Denken an Berlin in einem tiefen Zeitkontext) und sang ein weiteres Wiegenlied.

“Aurality” with Niko de Paula Lefort

Gegen 23:30 Uhr wickelte der Künstler und Musiker Ansgar Wilken seine Percussion-Instrumente aus einem Handtuch und breitete sie auf dem Boden aus. Darunter befanden sich eine Handschaufel, ein Metallaschenbecher, eine Vorhängekette, winzige Gongs, Murmeln in einer Schüssel und weitere diverse Gegenstände aus Draht, Gummi oder anderen Dingen. Ansgars Konzert führte uns zu „The Secret Rhythm of Tulpen und Narzissen“. Mit unglaublicher Geschwindigkeit wurden die Objekte betrommelt, beklopft und gestreichelt, gezupft und geziept, arrangiert und re-arrangiert in Mustern, die man hören und sehen konnte. Unser anschließendes Gespräch erörterte morgendliche Rituale – von den unveränderlichen Bewegungsmustern des Sich-Abtrocknens nach der Dusche bis zur Katastrophe fehlender Milch im Morgenkaffee.

Too fast to get captured on film: Mr. Wilken

Inzwischen waren noch mehr Gäste angekommen und genossen draußen am Tisch Essen und Trinken. Podcasterin Laura Lukitsch war gekommen, um Material für ihre nächste Radiosendung aufzunehmen. Neben der Feuertonne stand der Radiokünstler Marold Langer-Philippsen und richtete seinen Rekorder auf die zischenden Flammen, in Vorbereitung auf seinen Auftritt in den frühen Morgenstunden.

Mitternacht: „The Beetles’ Harvest Supper“ sah die Künstlerin und Wissenschaftlerin Kat Austen mit einer Schüssel Mehl, etwas Milch, einem Ei und mit Backpulver gefüllten Löffeln aktiv werden. Bezug nehmend auf ländliche Ernterituale und deren Ziel, eine gute Ernte für das nächste Jahr zu sichern, führte Kat den „Ritus künftiger Käfer“ durch, um im nächsten Jahr ein reichhaltiges Ökosystem für Insekten zu gewährleisten. Dies beinhaltete das Backen von Geister-Käfern aus Maismehl, eine Beschwörung verbleibender Käfer der Saison mit einem lauten BANG !, und das gemeinschaftliche Teilen der Mais-Käfergeister um Mitternacht.

Don’t forget the antenna, or the spell won’t work

Niki Matita hatte zwei weitere Vorproduktionen vorbereitet: „Knöpfrunde“, ein kurzes Hörspiel von Hermann Bohlen, und „Mitternächtliche Klangreise“, eine Aufführung des Berliner Musikerin, Schamanin und Heilerin Zelda Panda. Weitere Kompositionen aus dem Open Call fanden ihren Weg on Air, darunter zwei Werke von Chelidon Frame, eines von Alex Head (Kurator des Berliner Radioprojekts „Networked Independence“) und Ana Berkenhoffs „Beastjetzt“. Umrahmt von „After the moonrise“ und „Low rise“, stellte Mme Schaffner Singing Fires“ vor, eine Zusammenstellung archivierter Fieldrecordings aus dem Jahr 2004, die die Musikanthropologin Sisukas Poronainen anlässlich eines zeremoniellen Festes in Pauanne, Kokkola, im Westen von Finnland aufgenommen hatte.

Not singing but conversing: Kate and Kat in a fiery surrounding

Die Gesänge wurden meistenteils in Gegenwart eines Feuer gesungen und enthielten Texte aus der Kalevala, einem kosmogonischen Mythos, der 1835 von Elias Lönnerot zusammen gestellt wurde. Obwohl im 21. Jahrhundert aufgezeichnet, mutete die Atmosphäre dieser Lieder und „Runos“ (Zaubersprüche) fast vorzeitlich an.

Eine neue Runde „Breaking Nuts“ mit Helen Thein, Gabi Schaffner und Kate Donovan erbrachte weitere wundersame Geschichten, darunter auch die etwas traurige über ein Geschwisterpaar, das in einer Walnuss wohnte und von uns entzweigebrochen und verzehrt wurde.
Weiteres Wiegensummen von Ela stieg in den Äther auf, ebenso Leon Twardys „Excerpt of Nana“ sowie eine noch lang knisternde Aufnahme des Datscha-Feuers.

A blue mask for “Maschkera”

„Maschkera“ von Marold Langer-Philippsen begann um 3:30 Uhr in einem meditativen Tempo mit Geräuschen, die vom Feuer draußen aufgenommen waren, gesprochenen Worten und interstellaren Telefaxen aus seinem Projekt „Moon Bouncing“ von 2019. So erwuchs Tonschleife nach Tonschleife aus diesen und weiteren Klängen, die live erzeugt wurden (Glocken, Händeklatschen, Telefonwiedergabe). “Maschkera” nahm Fahrt auf, und der Künstler atmete in eine blaue Maske, die er klanglich so modifiziert hatte, um je nach linkem oder rechtem Mundstück verschiedene Klangfarben zu erzeugen,

Re-sounding faxes from the moon

Mit Einbruch des Morgens, gegen 6:30 Uhr, kam unser letzter Gast, die Künstlerin und Informatikerin Peggy Sylopp, zu einem besinnlichen Morgenspaziergang, der für 7 Uhr angesetzt war. In ihrer Hand hielt sie ein selbstgefertigtes Gerät, das es uns erlauben sollte „To Hear how you Like To Hear“. Aus ungeklärten technischen Gründen mussten wir unseren Spaziergang durch den Garten jedoch ohne dieses sinneserweiternde Hörgerät machen, das Peggy in Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer-Institut „für Menschen mit und ohne Hörbehinderung“ entwickelt hatte.

How to hear what you like to hear

Zurückgeworfen auf unsere schläfrig schlaftrunkenen Sinne erkundeten wir die Beete, schnupperten an letzten Rosen des Jahres, sammelten gefallene Äpfel auf und sinnierten über den rosig glühenden Kondensstreifen eines Flugzeugs, der sich langsam in einem nächsten strahlenden Herbsttag auflöste. Wir danken fürs Zuhören!

8:00 Uhr: Es ist Zeit fürs Frühstück, ein letztes Foto…und erste Planungen für ein Datscha Radio in 2020.

Not quite awake but quite awake: The Datscha ladies

———————

Rezept für gebackene Käfergeister (Ritual künftiger Käfer)

  • Around 500g of baking flour
  • One large egg
  • A teaspoon of baking powder
  • Milk 

Mix together the flour and baking powder thoroughly. Make a hollow and break in the egg. Add a splash of milk and begin to mix. Gradually add more milk until the mixture is stiff and before it becomes sticky. If you add too much milk, add a little flour to compensate. Spread flour on a baking tray. Take a ping pong ball sized portion of the mixture and form it into a beetle shape, then place it on the baking tray. You can use spaghetti or cloves for the antennae. Repeat until all the mixture is used. Bake in the oven at 150 degrees for 10 minutes. To summon the beetles you can try throwing copper chloride in the bonfire, but they only come on special harvest days….

NightGardening III was rebroadcast (in parts) by: World Day of Feminist Radio (Freirad Innsbruck, Freies Radio Neumünster, Free FM Ulm, SoundArt Radio, Freies Radio Berlin Brandenburg (colaboradio, frrapo Potsdam and Ohrfunk).

This post is also available in: Englisch