Der hessische Handkäs kommt in flachen Fladen einher, die idealerweise noch den Abdruck der Hände ihres Machers tragen. Er wird mit klein gehackten Zwiebeln versehen und mit Essig und Öl übergossen, gern wird Kümmel hinzugefügt. Man kann ihn in diesem Gemisch noch weiter reifen lassen oder auch eher verzehren. Der hessische Handkäs ist verbreitet in ganz Hessen, und stellt eine eher deftige bis heftige Angelegenheit dar. Die “Musik”, die im Namen des Gerichts “Handkäs mit Musik” enthalten ist, bezieht sich auf die Fürze, zu denen der Darm des Genießers nach Ende der Mahlzeit gerne neigt. Der Kümmel ist das Hausmittel dagegen. Handkäs wird mit gutem Graubrot und Butter gegessen, wobei das tropfende Gemisch mit dem Messer auf die gebutterte Brotscheibe aufgetragen wird. Auf gar keinen Fall isst man den Handkäs “extra” mit Messer und Gabel.
Im Zuge kulinarischer Neuerungen wurden, dies vor allem im Raum Gießen, über die Schüssel hinaus reichende Kreationen geschaffen. Das “Hessenschnitzel” etwa – mit Handkäs überbacken oder auch: mit Handkäs und Sauerkraut nach Art von Medaillons gefüllt. Oder die Pizza mit Handkäs.
Die heutige Exkursion in den Spessart offenbarte eine bislang fremde Form des Handkäs: Der Kahlgrunder Handkäs. Es ist klar, dass sich in der Begegnung einer hessischen Forscherin mit einem sozusagen bayrischen Handkäs* Kulturformen aufeinandertreffen, die von keiner Seite mehr unvoreingenommen analysiert werden können. Die Kahlgrunder verteidigen ihren Handkäs als den originalen, echten Handkäs. Während die Frankfurter (oder auch Gießener, Mainzer, Wiesbadener, Offenbächer usw.) selbstredend ihre Servierform des Käse hochhalten. Die Ethnografin kommt aus Frankfurt, hat zwar im Elternhaus keinen Handkäs gegessen, sich jedoch mit Verlassen ihrer Heimatstadt umso konzentrierter der heimischen Küche gewidmet. Die Begegnung mit dem Kahlgrunder Cousin führte noch vor dem ersten Bissen zum Kulturschock.
Gereicht wird ein Teller/Schüsselchen, in dem der Handkäs – mit Pfeffer überstäubt – als weicher, rundlicher Laib in einem Sahne- und Schmandgemisch mit kleinen Zwiebelstückchen schwimmt. Ein traditionelles Brettchen gehört dazu, auf diesem liegt eine reichliche Portion Brot.
Die Konsistenz des Kahlgrunders ist weich… Auch die Farbe ist heller und der Geschmack: Sehr viel milder! Auf der Zunge ereignet sich die Ahnung eines Bitzelns, der Blick auf die Schnittfläche im Käse lässt eine leichte Blasenbildung im Gewebe erkennen. Es stellt sich bald die Empfindung ein, man esse etwas Lebendiges, eine Lebensform, eine Auster oder etwas gänzlich Außerirdisches.
Hier exemplifiziert sich die innere Zerrissenheit der Ethnografin. Wie soll sie über etwas berichten, dass ihr deshalb “fremd” vorkommt weil sie das “andere” besser kennt? Was soll das heißen? Und wohin soll oder kann es führen? Befangenheit! Schmeckt ihr der fremde Käse nicht? Doch, durchaus! Doch das Seltsame, das Neue, das Unheimliche – weil eben nicht heimische –, auf dem Teller nimmt im gleichem Maße zu wie die Masse abnimmt. Ungefähr nach dem Verzehr der Hälfte des Käses, wobei das Brot zur Gänze aufgegessen wird, ist die kritische Grenze erreicht.
In der Folge wird ein Interview mit der Tochter des Handkäsfestbegründers geführt. Es zeigt sich, dass der hessische wie auch der Kahlgrunder Handkäs so unterschiedlich gar nicht sind. Die Zutaten: Quark, Salz, Natron. Dazu Gewürze, über die strikt geschwiegen wird. Und der Unterschied zwischen den beiden besteht grundsätzlich darin, dass der Käse in seiner hessischen Variante nach seiner Herstellung getrocknet wird, während der Kahlgründer frisch aus dem Trog auf den Teller kommt. Und was die Präferenzen angeht, ob nun in Schmandsauce oder anders: Auch der “bayerischere” kann mit Essig und Öl angemacht werden. Gutes Brot ist wiederum bei beiden essentiell.
*(denn auch wenn die Grenze zwischen Hessen und Bayern in dieser Region sich von Dorf zu Dorf schlängelt und allgemein eher unscharf verläuft, liegt Klein-Kahl (ein 400-Seelen-Dorf) offiziell auf der bayrischen Seite)
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