Resumé: Die Nacht der Nachtigallen
Der Himmel war noch hell, als wir mit dem “Nachtgärtnern” begannen. Während wir aufbauten, schien die Sonne auf das Geländer der Veranda, wo ein kleiner Herd aufgestellt war, daneben Flaschen mit Wein und Marien- und Maikäfer aus Schokolade. Leonie Roessler war den langen Weg von Den Haag gekommen und hatte ihren Sampler und Rechner mitgebracht. Wir unterhielten uns…. und dann, exakt um 20:32 Uhr zu Sonnenuntergang und mit der Abenddämmerung, die sich aus den dunkleren Ecken des Gartens hinaus auf den Rasen wagte, kam der Moment, um on Air zu gehen.
Unser Eröffnungsstück war ein dreistimmiges Madrigal aus dem 16. Jahrhundert des Komponisten Thomas Weelkes, gesungen vom Berliner Chor “Singlust” und mit dem passenden Titel “The Nightingale”. Geschrieben für Sopran, Alt und Bariton, entschwebten die Melodiestränge in die Abendluft zusammen mit dem Duft des blühenden Flieders über den Gartenzaun und darüber hinaus in die benachbarten Kleingärten der “Kolonie Britzer Wiesen”. Denn diesmal finden die Iterationen von Datscha Radios “Nachtgärtnerns” jeweils in einem anderen Berliner Garten statt… und Kate Donovans “Datscha” war für seine Nachtigallenpopulation bekannt.
Von da ab entspannen sich neun Stunden nächtlicher Radiokunst. Während und zwischen den Auftritten tranken wir Champagner (zur Feier des kürzlich gewonnenen Preises für das Projekt) und heißen Tee und besprachen, was wir über diesen berühmten Vogel wussten, beginnend mit einer Einführung von Kate über die erste Nachtigallen-und-Musikaufnahme, die damals in London gemacht wurde und bei der Beatrice Harrison das Cello spielte.
Leonies Beitrag war eine Klanglandschaft, die sie exklusiv für diesen Abend komponiert hatte. “Copper and Song” basierte auf ihrem Besuch in Isfahan im Iran, wo sie den Basar der Kupferschmiede besuchte und dabei feststellte, dass fast jeder von ihnen einen Käfig mit einer Nachtigall besaß, die das Hämmern mit ihrem Gesang begleitete. In unserem späteren Gespräch bezweifelten wir allerdings, dass es für die Vögel ein Vergnügen wäre, mit so viel Lärm zu leben, und wir dachten über den zufälligen Inhalt von Feldaufnahmen nach, die oft einem ursprünglich ganz anderen Zweck hätten dienen sollten.
Währenddessen besuchten uns neugierige Gartennachbarn, Kasia Justka und Peggy Sylopp tauchten als Überraschungsgäste auf, Rosanna Lovell betrat den Garten mit ihrem Laptop und einer Klarinette, und Walter Schulze erschien mit zwei sehr beeindruckenden Koffern, die kurz darauf ihren bedeutsam blinkenden Inhalt enthüllten.
JD Zazie und Mat Pogo materialisierten sich aus der Dunkelheit und begannen, ihre Ausrüstung aufzustellen. Der ursprüngliche Zeitplan hatte Niki Matita und Walter Schulze zu dieser Stunde vorgesehen, doch Schulzes Synth und Niki Matitas Performance-Lesung erforderten nun mal Vorbereitungszeit. “Domestic Nightingale” von JD Zazie und Mat Pogo basierte auf Samples von Nachtigallen, die modifiziert, remixed, beschleunigt und verzögert wurden. Muster erschienen und verschwanden wie Wirbel in einem schnell fließenden Bach: Ein sehr schönes Konzert!
Secret-en-plein-aire von Walter Schulze und Niki Matita erwies sich als zweiteilige Performance. Schulzes Synthesizer blinkten in allen Farben des Spektrums, während sie eine Reihe von Berliner Nachtigall-Feldaufnahmen in ihrem Inneren bearbeiteten. Soweit ich es (auf Nachfrage bei Niki) verstanden habe, benutzte Schulze das Signal der Hüllkurven, um die Töne zu modulieren…. und die Maschine zwitscherte und sang, live kommentiert von Niki, die gelegentlich mit an den Knöpfen drehte. Für ihren Text “Die Nachtigall vs. der Nachtigall” hatte sie ein eigenes Klangnest vorbereitet, darunter eine Sopran-Nachtigallinterpretation aus den 30er Jahren.
Lukatoyboy kam auf spontane Einladung von Frau Matita, nachdem sie sich ein paar Tage zuvor auf der Straße getroffen hatten, und brachte einen tragbaren Plattenspieler und zwei Walkie-Talkies mit. Als echter Überraschungsgast war er null überrascht vom Thema der Nacht und extrahierte mindestens ein Dutzend 7-Zoll Vogelstimmenvinyls aus seinen Taschen. Seine Performance war ausgesprochen vielseitig: Die Platten wurden zerkratzt und gespielt, während ein kleines Diktiergerät als Loop-Maschine diente. Es entstanden solche abenteuerlichen Sequenzen – Vogelgesang und eingestreute Stimmen von Naturforschern und Vogelbeobachtern. Danach übernahm Niki Matita die Rolle einer Expeditionsleiterin auf dem Walkie-Talkie und führte Luka (anderes Walkie-Talkie) und JD Zazie (Mikrofon an langem Kabel) hinaus in den Garten und darüber hinaus, um den Geräuschen der nächtlichen Gartenkolonie nachzugehen.
Während die Temperaturen allmählich auf 12 Grad absanken (gefühlte 8 Grad), zogen wir und die Künstler*innen Schicht für Schicht warme Kleidung über: Strumpfhosen, Pullover, Westen, Hüte und Kapuzenpullover (mit roten Ohren). Radio-Adrenalin hielt uns in Schwung. Rosanna Lovell war die letzte Live-Künstlerin, und sie brachte eine exquisit recherchierte Auswahl von Oliver Messians Kompositionen mit, die er aus Vogelstimmen abgeleitet hatte. “Vogelgesang und Notation” wurde gefolgt von Rosannas Klarinetteninterpretation einer Nachtigallen-Partitur, die ich 2014 für Datscha Radio konzipiert hatte (Das Instrument musste erst aufwärmt werden, indem sie es unter ihrer Jacke versteckte wurde, bevor es gespielt werden konnte.).
Nachdem wir bereits so vielen verschiedenen, feldaufnahmenbasierten und teils elektronisch verarbeiteten nachtigallischen Gesangsstücken gelauscht hatten, fanden wir es immer noch erstaunlich, wie sehr die “Essenz” der melodischen Triller, Pausen und Pfiffe dieses Vogels in den verschiedenen Interpretationen erhalten blieb.
Mitternacht vorbei wandten wir uns Gesprächsthemen und Kompositionen zu, die Kate und ich im Vorderfeld gesammelt hatten: Das Interview mit dem Künstler David Rothenberg wurde von zweien seiner Werke eingerahmt, die er für seine Arbeit “Nightingales in Berlin” in verschiedenen Parks eingespielt hatte, gefolgt von einer Komposition von Felicity Mangan, die ihn auch während einer seiner nächsten Präsentationen begleiten würde (16. Mai in der Zabriskie Buchhandlung in Berlin). Udo Noll hatte eine “eklektische Mischung” von Nachtigall-Feldaufnahmen aus seinem aporee.org-Archiv beigesteuert, die Teil einer umfangreichen Hörsitzung zu weiteren Feldaufnahmen waren – eine davon von einem in Charlottenburg an Schlafmangel verzweifelnden Künstler aufgenommen.
Die frühen Morgenstunden waren da. Ein leichter Regen fiel und draußen in einem Blumentopf ruhte ein Mikrofon unter einem Regenschirm, um die Umgebungsgeräusche der Britzer Wiesen aufzunehmen. Entfernte Vogelstimmen mischten sich mit dem Geräusch von noch weiter entferntem Verkehr und mysteriös murmelnden Geräuschen und begleitet von dem prasselnden Echo der Regentropfen auf der gespannten Haut des Schirms. Der Garten war ruhig, die Künstler fort, unsere Pressedame Helen hatte sich auf ein Bett im Inneren zurückgezogen. Zeit zum Geschichten erzählen und Gedichte lesen…. und für eine weitere Einspielung des Nachtigallenchors und Überlegungen zur Vogelmusik. Wer noch wach war, konnte danach Keats’ “Ode an eine Nachtigall” (zweisprachig), der grausigen Geschichte von Ovid’s Philomela oder dem Märchen “Die Rose und die Nachtigall” von Oscar Wilde lauschen, um nur einige zu nennen.
Gegen 4:30 Uhr begann der Garten wieder aufzuwachen: Das Lied der Nachtigallen vermischte sich mit den Guten-Morgen-Rufen eines Krähenschwarms und dem Gurren der Holztauben und das Grau der Wolken wurde heller. Um 5 Uhr bemerkten wir, dass unsere Stimmen und Gedanken ziemlich langsam geworden waren. Gute Idee, hier auf einen von Niki Matitas Luciana-Mixen zurückzugreifen, von denen sie mehrere vorbereitet hatte. Jazzige Melodien, Vogeltangos und klassische Interpretationen zur Nachtigall waren viertelstundenweise portioniert worden, um das Thema in populärer (und weniger populärer) Musik zu präsentieren.
5:27: Wir hatten es fast geschafft! Knapp blieb die Zeit für eine kurze Vorschau auf Datscha Radios zweites Event von “Night Gardening” über die “Düfte der Nacht” und für den letzten Mitschnitt von Thomas Weelkes erstaunlichem Nachtigallen-Madrigal, gesungen vom “Singlust”-Chor unter der Leitung von Andrea Eckhardt. Ein Knistern und Knacks: Die “Nacht der Nachtigallen” war vorüber!
Genau in diesem Moment landete eine Nachtigall auf dem Busch neben der Veranda und begann mit aller Macht zu trällern…. und wir lauschten weiter…
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